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overSEAS

Nun ist schon ein ganzes Jahr vergangen, seit sich die D.A.U. Jungs im März 2022 zu ihrem 12. Treffen in Leverkusen versammelten. Mein Geburtstag war gerade ein paar Tage zuvor, und so ließen es sich die Freunde nicht nehmen, mir ein sehr schönes Geschenk in Form eines Paares SEAS 27TAC/GB zu überreichen. Diese paarweise selektierten Hochtonkalotten fristeten seit diesem Treffen ihr arbeitsloses Dasein in meinem Chassislager. Dieser Zustand konnte und durfte keinesfalls fortgeführt werden, und mein schlechtes Gewissen wuchs bereits ins Uferlose.

SEAS 27TAC/GB

 

Einem solch tollen Hochtöner möchte ich natürlich einen adäquaten Spielpartner mit auf seinen Arbeitsweg geben, und so freute ich mich, als ich kürzlich eine unwiderstehliche Offerte sah. So wechselte kurze Zeit später ein Paar fast neuer SEAS U18RNX/P zu einem lächerlichen Preis in meinen Besitz.

SEAS U18RNX/P

 

Dieses hochwertige und, wie der Hochtöner, exzellent verarbeitete Tiefmittelton Chassis bringt laut Datenblatt einen sehr praxisgrechten TSP Satz mit. Zuverlässige Messungen fand ich vor dem Kauf bei unserem italienischen „Kollegen“ Diego von Dibirama. Der von ihm gemessene TSP Satz weicht vom Datenblatt in Konsistenz ab und führt zu weitestgehend identischer Abstimmung. So sollte man es von einem hochwertigen Markenchassis auch erwarten dürfen. Was aber nun tun mit diesem guten Stück? Die TSP erlauben vielfältigen Einsatz. Von CB und GHP über BR, TML bis hin zur TQWT ist alles im Bereich des Möglichen. Nach einigen Simulationen stand fest, dass es eine Entscheidung zwischen BR und TQWT geben wird. Die Performance ist identisch.

Vergleich Performance U18RNX/P in 28 Litern BR vs. 130cm (32 L) TQWT

 

Die Frage beantwortet sich beim ersten Hinsehen von selbst. Warum 4 Liter mehr Volumen aufwenden, wenn die Performance identisch ist? Wie so oft ist der erste Blick auch in diesem Fall trügerisch, denn 28 Liter lassen sich in einer Kompaktbox mit ansprechenden Proportionen nicht so einfach unterbringen. Also drängt sich eine Standbox auf.  Bei einer sinnvollen Höhe von einem Meter und einer Breite von etwa 23 cm blieben nur etwa 15 cm für die Tiefe übrig. Das ist ein optisches K.O. Kriterium. Also müsste das Gehäuse tiefer werden und eine Abtrennung nach unten erfolgen. Somit löst sich der scheinbare Volumenvorteil der BR Variante in Luft auf. Das resultierende Gehäuse sollte versteift werden, und ein IHA wäre, je nach Dimensionierung der Proportionen, auch von Vorteil. Hier kommt nun die TQWT ins Spiel. In der Vergangenheit haben einige TQWT Aufbauten gezeigt, dass sie im Bass eine Präzision mitbringen, die ich einem BR Bass vorziehe. Das mag in den Bereich der Psychoakustik fallen, aber Freunde und Gasthörer bestätigen diesen Eindruck sehr häufig. Zudem bringt eine TQWT durch ihren Teiler eine Verstrebung, die in dem Volumen von 32 Litern bereits enthalten ist, gleich mit. Durch die akustischen Sümpfe am Anfang und Ende der Line ist ein IHA zudem obsolet.

Bei der SEAS 27TAC/GB handelt es sich um eine sehr hochwertige Hochtonkalotte, die von SEAS nur paarweise selektiert angeboten wird. Sehr ungerne würde ich dieses schöne Stück hinter einem Waveguide verstecken. Es soll also ein Lautsprecher entstehen, der ohne Schallführung beim HT und ohne schräge Fasen zu einem ordentlichen Abstrahlverhalten führt. Bei Diego von Dibirama habe ich deswegen die Messungen des SEAS 27TBC/G mit identischer Frontplattengeometrie und die des SEAS U18RNX/P heruntergeladen und ein wenig simuliert. Das Ergebnis war durchaus brauchbar, und so entschied ich mich, das Projekt OverSEAS in der angedachten Gestaltung zu verwirklichen.

Um auszuschließen, dass die Projektidee nach hinten los geht, habe ich die Chassis in ein zufällig vorhandenes Kompaktgehäuse mit fast der gewünschten Breite geschraubt. Diesem Gehäuse habe ich vor den Messungen seitliche 16mm Fasen verpasst, um ein nicht perfektes, aber dennoch brauchbares Abstrahlverhalten zu erhalten.  Es war von vornherein klar, dass dieses ohne Schallführung und ohne schräge Fasen kaum erreichbar sein würde. Wir wissen aber auch alle, dass jeder Lautsprecher kompromissbehaftet ist. Hier galt es nun, den besten Kompromiss mit den gegebenen Bedingungen zu erzielen. Nachdem die schnellen Messungen im Testgehäuse zeigten, dass der Versuch nicht aussichtlos bleiben würde, habe ich TQWT Gehäuse in Form schlanker Standboxen aufgebaut. Um die TQWT passend zu falten, habe ich mich des TQWT Rechners von HSB bedient. Dieser bietet, im Gegesatz zum Rechner von mh-Audio, die Möglichkeit, die zu verwendende Plattenstärke vorzugeben. Der Korpus des Gehäuses soll in 16mm Material ausgeführt werden. Lediglich die Schallwand wird wegen der Einfräsungen für die Chassis aus 19mm Material bestehen.

Faltplan reiner TQWT Anteil ohne Weichen- und HT Bereich

 

Oberhalb der eigentlichen TQWT ist ein separater Gehäusepart für den Hochtöner vorgesehen. Nach unten wird das Gehäuse so verlängert, dass sich eine Gesamthöhe von 100 cm einstellt. Der nicht genutzte Hohlraum unterhalb der TQWT bietet komfortablen Platz für die Unterbringung der Frequenzweiche.

Nachdem saubere Messungen in den finalen Gehäusen eingefangen wurden, konnte die Simulation einer Weichenschaltung mittels VituixCAD erfolgen. Diese Simulationen offenbarten, dass es gar nicht so einfach ist, einen möglichst guten Kompromiss zu finden. Entweder war es hier ein Quäntchen zu viel, oder dort ein Hauch zu wenig. Jede kleine Verbesserung in eine Richtung brachte eine Verschlechterung in eine andere Richtung mit sich. Natürlich wurde Wert darauf gelegt, dass sich die Energieabgabe so gleichmäßig wie möglich gestaltet. Auch dabei ist VituixCAD eine sehr große Hilfe, da der zu erwartende Energiefrequenzgang auf horizontaler Ebene während der Simulation stets angezeigt wird. Eine Betrachtung der einzelnen Winkelfrequenzgänge allein kann nur zu einer groben Aussage führen. Zu unterschiedlich gestalten sich dafür die einzelnen Kurven. Insgesamt wurden gut 20 verschiedene Simulationsansätze gestartet und auf dem Weichenbrett gesteckt,  von denen sich letzlich Variante 8 gehörmäßig durchsetzen konnte.

overSEAS Simulation 0° – 90° mit angefügtem Nahfeld + Port (Freifeld)

 

Auf Achse verläuft der Frequenzgang sehr ausgewogen mit einer leichten Senke mit Scheitelpunkt bei rund 5 kHz. Bei 15° zeigt sich hier eine größere Senke. Bei 30° und 45° ist der Verlauf in diesem Bereich am ausgewogensten, und bei den größeren Winkeln von 60° bis 90° minimal überbetont. Hier kommt die oben bereits genannte Simulation des Energiefrequenzgangs ins Spiel.

overSEAS Energiefrequenzgang (blaue Kurve)

 

Dieser zeigt, dass die Energieabgabe des Lautsprechers in den Raum auf horizontaler Ebene gleichmäßig ist, für einen Lautsprecher ohne Schallführung und schräge Fasen sogar sehr gleichmäßig. Auch für dieses Ergebnis sind kleinere Kompromisse nötig. So zeigt sich bei der Betrachtung des Achsenfrequenzgangs und der Einzelzweige von TMT und HT eine kleine Phasenunsauberkeit im Hochtonbereich. Das ist die Stelle, an der der einzelne Pegel des Hochtöners minimal lauter ist als die Summenkurve. Auch verlaufen die abfallenden Flanken der beiden Chassis nicht perfekt symmetrisch. Dies ist aber im vorliegenden Fall eher von kosmetischer Bedeutung. Der Schnittpunkt der beiden Kurven liegt recht genau 6dB unterhalb der Summenkurve, was eine saubere Phasenlage im Bereich der Trennfrequenz bei etwa 2,8 kHz bestätigt.

overSEAS Frequenzgang 0° + Einzelzweige

 

Wie immer war es nun an der Zeit, die Gültigkeit der Simulation durch reale Messungen am Lautsprecher zu verifizieren.  Bei sorgsamem Umgang mit modernen Simulationsprogrammen könnte das zwar eigentlich entfallen, aber Kontrolle ist nun einmal besser als blindes Vertrauen.

overSEAS 0° – 90° gefensterte Messung ohne Bassanteil

 

overSEAS 0° + Einzelzweige gefensterte Messung ohne Bassanteil

 

Sowohl das von der Simulation vorausgesagte Verhalten unter Winkeln von 0° – 90° als auch die kleine Phasenunsauberkeit bei etwa 6,5 kHz zeigen sich unter realen Messbedingungen. Dass die realen Messungen etwas glatter sind als die Simulationen liegt in der Tatsache begründet, dass das finale Messfenster etwas kleiner gewählt wurde. Selbstverständlich sind die Messungen nicht geglättet worden.

Der Frequenzgang ist, zusätzlich zu der kleinen Senke auf Achse etwas fallend abgestimmt. Dafür wurde im Hörtest gegenüber der ursprünglichen Simulation ein Widerstandswert im Spannungsteiler verändert. Dies ist bei den oben veröffentlichten Simulationen bereits berücksichtigt. Die Schaltung der Frequenzweiche gestaltet sich recht einfach.

overSEAS Weichenschaltung

 

Warenkorb PDF

Warenkorb (Quint Store) für die Weichenteile der overSEAS (Preisstand 25.07.23)

 

overSEAS Frequenzweiche

 

Der Tiefpass wurde lediglich mit einem Filter 1. Ordnung realisiert. Dieses besteht aus einer 1,2mH Luftspule mit 1,0mm Draht. Eine zusätzliche Impedanzkorrektur und ein Saugkreis verhelfen dem U18RNX/P zu einem fehlerfreien Verlauf bis er an seine Spielpartnerin 27TAC/GB übergibt. Diese gibt sich  mit einer ebenso genügsamen Beschaltung zufrieden. Ein 12dB Hochpass, ein kleiner Sauger und ein Spannungsteiler passen die Kalotte hervorragend an den Tiefmitteltöner an. Die verwendete Schaltung aus Simulationsvariante 8 sah für den Spannungsteiler einen Reihenwiderstand von 1,8 Ohm vor, welchen ich auf 2,2 Ohm erhöht habe. Stattdessen hätte auch der 6,8 Ohm Widerstand auf 5,6 Ohm reduziert werden können, was den Hochtonanteil breitbandiger abgesenkt hätte. Dies lässt Raum für eigene Versuche. Frischer wird der Hochtonbereich mit der Kombination 1,8 Ohm und 6,8 Ohm. Der Griff zu 2,2 Ohm und 5,6 Ohm macht es obenrum noch etwas sanfter.

Selbstverständlich gibt’s auch Messungen des Klirrverhaltens.  Bereits bei der Auswahl des Tiefmitteltöners zeigte dieser in den Messungen von Dibirama im Bereich um seine Sickenresonanz herum etwas erhöhten Klirr. Auch die Messungen der overSEAS bestätigen dies.

overSEAS Klirr @ 85dB

 

overSEAS Klirr @ 90dB

 

Zum Glück handelt es sich um gutmütigen und klanglich nicht störenden K2, dessen Anteil bei 90dB auch lediglich auf Werte im Bereich 0,5% ansteigt. Auch dies kann man getrost als kosmetische Eigenschaft betrachten.

overSEAS Bau- und Bedämpfungsplan (vergrößern –> rechte Maustaste –> Grafik in neuem Tab öffnen)

 

Der Bauplan ist, wie immer bei meinen Bauplänen, nicht maßstabsgerecht.Die angegebenen Maße sind natürlich korrekt und ermöglichen einen problemlosen Aufbau.

Die Weichen- und Baupläne sind für private Nutzung freigegeben. Jegliche Form der gewerblichen Nutzung oder Verbreitung ohne vorherige Absprache ist untersagt und wird strafrechtlich verfolgt.

Und wie klingt die overSEAS? Die Lautsprecher klingen vollkommen unspektakulär und zwar im positiven Sinne. Die Wahl der qualitativ hervorragenden Chassis war eine gute. Die sehr neutrale Abstimmung und die ausgewogene Abstrahlung sorge für ein sehr stressfreies Hören. Der Bass reicht tief, ohne zu dröhnen, wie man es von einer sorgfältig abgestimmten TQWT erwarten darf. Stimmen klingen sehr natürlich, nichts zischelt, nichts nervt. Die Bühnenstaffelung gelingt der overSEAS ebenfalls hervorragend, sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Instrumente und die Positionen von Sängern lassen sich einwandfrei orten.

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